Zwei widerständige Leben

Bücher über Dimitris Koufontinas und Vassilis Paleokostas

Der Kampf gegen Repression, für Freiheit in ihrer gesellschaftlichen und individuellen Bedeutung und ein politischer und moralischer individueller Kompass sind die Themen, um die es in den Autobiografien zweier so unterschiedlicher Protagonisten wie Dimitris Koufontinas und Vassilis Paleokostas geht. Freiheit – dieses große Wort, diese Konstante emanzipatorischer Kämpfe und Antrieb vieler Widerstandskämpfer:innen. Nicht die Art „Freiheit“, die im Kapitalismus zu einer egoistischen Befindlichkeit verkommen ist, sondern das Element, ohne das jede kommunistische – und anarchistische – Gesellschaft unvollkommen bleibt. Das Streben nach dieser Art Freiheit führt zu staatlicher Verfolgung und einer Ächtung als „Gesetzloser“.

„„Dimitris Koufontinas, langjähriges Mitglied der „Revolutionären Bewegung 17. November“ (17 N), politischer Gefangener, und Vassilis Paleokostas, Sozialrebell und meistgesuchter Mann Griechenlands: Beide kämpften und kämpfen auf ihre Art gegen die Herrschaft einer ausbeuterischen Klasse und ihrer Handlanger. Dimitris ist seit Jahren im Knast, aber konnte mit einem harten Hungerstreik im letzten Jahr eine neue Welle der Solidarität auslösen, Vassilis lebt nach einem spektakulären Knastausbruch seit Jahren in der Illegalität. Die Originalausgaben sind Bestseller in Griechenland und haben übersetzt auch ihren Wert für ein deutschsprachiges Publikum.

Dimitris

Dimitris wurde 1958 in einem armen Tabakdorf in Nordgriechenland geboren. 1972 zog seine Familie nach Athen und aus den Bauern wurden Industriearbeiter. Er ist im Athener Stadtteil Exarchia zur Schule gegangen und hat Wirtschaftswissenschaften an der Uni Athen studiert, bis er den politischen und bewaffneten Kampf fernab der Akademie wichtiger fand. Sein politisches Bewusstsein erwachte im Aufstand gegen die griechische Militärdiktatur am 17. November 1973 im Polytechnikum, das von Studierenden und vielen anderen besetzt und von Panzern geräumt wurde, wobei über 20 Menschen starben. 1977 bekam er Kontakt zu illegalen Organisationsstrukturen und ging 1985 als Mitglied des 17 N in die Illegalität. Der 17 N existierte von 1975 bis 2002, seine Praxis richtete sich vor allem gegen Verantwortliche der Militärdiktatur, gegen hochrangige Funktionäre des britischen, bundesdeutschen und US-amerikanischen Imperialismus sowie Vertreter der heimischen „Lumpenbourgeoisie“. Nachdem mehrere Mitglieder festgenommen worden waren, tauchte Dimitris 2002 bewusst aus der Illegalität auf, um die Geschichte seiner Organisation und ihre revolutionären Ziele zu verteidigen – weil die anderen das nicht taten oder sich in Aussagen politisch distanzierten. Mit derselben Absicht schrieb er später im Knast sein Buch – solidarisch, reflektiert und selbstkritisch.

Ich denke, dass es sich tatsächlich nur lohnt, diese Seiten zu füllen, wenn wir nicht nur von unseren Siegen erzählen. Von unseren kleinen und größeren Siegen gegen einen übermächtigen Gegner. Worüber es sich in Wirklichkeit lohnt zu schreiben, sind unsere Niederlagen, für die allein wir die Verantwortung tragen. Jene, die wir nicht aufgrund der Allmacht des Gegners erleiden mussten, sondern aufgrund unserer Widersprüche, unsere eigenen Schwächen. Ich schreibe für eine kritische Sicht auf unsere Geschichte. Für unsere Selbstkritik. Es ist nicht einfach. Besonders, wenn man ein Teil der Geschichte ist, über die man schreibt. Deswegen entschied ich mich, in der ersten Person zu erzählen. Um meine Verantwortung zu übernehmen.“ Die politische Praxis Dimitris‘ steht in der Tradition der griechischen Partisan:innen gegen die deutsche Besatzung und den Imperialismus nach 1945. Er schildert nachvollziehbar die Organisationsprozesse, Probleme und Chancen einer illegalen „Avantgarde“ – einer Stadtguerilla.

Vassilis

Vassilis hingegen ist ein solitärer „Krieger“ in der Tradition der sozialrebellischen Kleften. Sein Leben wurde geprägt von einer mitunter abenteuerlichen Kindheit in den rauen nordgriechischen Bergen, wo er 1964 geboren wurde. Als Jugendlicher arbeitete er zwei Jahre am Fließband, ging aber eines Tages einfach aus der Fabrik weg und kam nie wieder. Er wollte sich nicht ausbeuten und befehlen lassen, er wollte leben, anstatt gelebt zu werden. Seither ist er ein geächteter Gesetzloser. Er beschreibt sehr plastisch Freundschaften und Verrat, Banküberfälle, Entführungen, Schießereien, das Leben im Knast und spektakuläre Ausbrüche – und auch eine Fahrradtour nach China… Feinde der Herrschenden – Freunde der Bevölkerung Vassilis ist den Herrschenden verhasst, weil er sie immer wieder lächerlich – und bei zahlreichen Banküberfüllen und zwei Entführungen von Industriellen – etwas ärmer gemacht hat. In Dimitris sehen sie völlig zu Recht ihren Feind, weil der 17 N ihr Regime jahrzehntelang politisch-propagandistisch und mit tödlichen Attentaten angegriffen hat. Beide sind in der griechischen Bevölkerung populär und werden von den kommunistischen und anarchistischen Bewegungen respektiert, weil sie auf Seiten der Unterdrückten stehen und sich nie unterworfen haben. Sie rufen faszinierende Szenen in Erinnerung, Dimitris z.B. eine Vollversammlung der Militanten Griechenlands, bei der einhundert Maskierte sich unter konspirativen Umständen trafen, um eine gemeinsame (bewaffnete) Strategie zu diskutieren… Und Vassilis Schilderung seiner ersten Hubschrauberflucht aus dem Athener Hochsicherheitsknast Korydallos erzeugt vielleicht nicht nur bei (ehemaligen) Gefangenen eine Gänsehaut:

Der Hubschrauber war nur noch 100 Meter von der Knastmauer entfernt. Sekunden sp.ter schwebte er mitten über dem Hof und ging in den Sinkflug. Kleine Kiesel und Staub flogen umher und verdunkelten den Himmel. Der Innenhof schien von einem heftigen Sandsturm heimgesucht zu werden. Das ohrenbetäubende, trockene Schlagen der Propeller hallte vielfach vom Beton des E-Flügels und der Mauer zurück. Der ganze Knast vibrierte als wolle er einstürzen. Alle unsere Sinne waren in höchster Alarmbereitschaft, Adrenalin schoss ins Blut. Wie in Zeitlupe entfaltete sich virtuell eine dreidimensionale Realität. Ich hatte das Gefühl, jede Umdrehung des Propellers zu sehen, jedes durch die Luft fliegende Sandkorn. Und ich fühlte jede einzelne Schallwelle auf meinen Trommelfellen. Der Helikopter schwebte einen Meter über dem Boden, als wir einstiegen und begann sofort noch lauter schlagend aufzusteigen. Schnell ließen wir den Gebäudekomplex von Korydallos hinter uns und flogen der süßen Freiheit entgegen.“

Die materiellen Bedingungen waren in Griechenland und der BRD nie gleich und haben sich in den letzten Jahrzehnten erheblich verändert. Die Traditionen und Verbindungen zu früheren Generationen von Sozialrebell:innen und Partisan:innen sind in Griechenland lebendig, in Deutschland aber von Nationalsozialismus und Antikommunismus zerschlagen worden. Vergleichbare „Sozialbanditen“ wie Vassilis gab es hierzulande ohnehin nie und die militante Praxis von RAF, Bewegung 2. Juni, Roter Zora und Revolutionärer Zellen ging vor Jahrzehnten zu Ende – griechische Stadtguerillagruppen wie 17 N oder „Revolutionärer Kampf“ existierten noch bis in die Zeit, die die Bücher beschreiben, und anarchistische bewaffnete Kleingruppen und Massenmilitanz sind bis heute nicht verschwunden. Aber bei allen Unterschieden zu hier geht es um Verhältnisse und deren Nutznießer, die im Prinzip nicht unähnlich sind. Vassilis hasst und verachtet sehr persönlich die Korruption der herrschenden Klasse und ihrer Organe wie Polizei und Justiz – von der Strafvollzugsmaschinerie ganz zu schweigen. Er kritisiert ein System, in dem Parlamente maßgeschneiderte Gesetze für die Reichen verabschieden, Journalist:innen im Interesse von Polizei und Medienmogulen berichteten – und in dem zunehmende Armut auf eine irrwitzige Bereicherung der Herrschenden trifft. Dimitris analysiert eben diese Verhältnisse sehr politisch und hat sie im Kollektiv des 17 N bekämpft, noch heute macht er das als Gefangener.

Die Leser:innen dieser Bücher, die selbst einmal im Knast oder in einer Stadtguerillagruppe waren, dürften nur eine kleine Minderheit sein. Und all die anderen, die politisch arbeiten, aber ihre Projektgelder nicht aus einem Banktresor oder von Superreichen, sondern bei einem AStA oder einer Stiftung beantragen müssen? Die einen Schlüsseldienst brauchen, wenn sie sich ausgeschlossen haben? Die – sehr oder vielleicht auch zu vernünftig – eine politische Laufbahn verfolgen, die sie nicht in den Knast bringt? Auch für sie lohnen sich diese Bücher, denn sie bieten lehrreiche Einblicke in wahrlich nicht nur schöne, aber sehr reale Welten fernab der üblichen Lebenswelt in der Metropole BRD: Illegalität, bewaffneter Kampf, Klassenjustiz und Einzelhaft, Menschen auf der Flucht… Einige könnte sicher auch die Qual der Wahl interessieren, ob nach einer ziemlich suboptimal gelaufenen Passkontrolle besser die Tasche mit den philosophischen Lieblingsbüchern oder der Rucksack mit der durchgeladenen Kalaschnikow stehengelassen wird? Oder was alles getan werden kann, um einen Streik von Hafenschlepperbesatzungen wirksam zu unterstützen? Beide Fragen werden in den Büchern beantwortet.

Freiheit und Glück für Dimitris und Vassilis!

Klaus Viehmann, Rote Hilfe Zeitung, Nr. 3/2022