Nikolaus Dimmel und Alfred Noll fordern und fürchten den „Öko-Leviathan“

So manch engagierter Umweltaktivist ist schon als „Ökofaschist“ beschimpft worden. Andere werden zumindest verdächtigt, Anhänger eines rigiden Verbotsstaates zu sein. Die Kritik kommt dabei meistens von Menschen, die die Freiheit des täglichen Fleischkonsums und das Menschenrecht auf Vielfliegen tapfer verteidigen.

Zur Wahrheit gehört aber auch, dass es tatsächlich eine totalitäre Versuchung gibt, der, angesichts von politischer und gesellschaftlicher Tatenlosigkeit, auch Ökos hin und wieder erliegen. So schrieb der DDR-Dissident und Ökosozialist Rudolf Bahro, das Volk rufe im Grunde nach einem „grünen Adolf“, und der DDR-Philosoph Wolfgang Harich glaubte, dass nur ein kommunistischer Weltstaat mit weitreichender Machtbefugnis die Menschheit zu einem nachhaltigen Leben führen könne.

Nikolaus Dimmel und Alfred Noll haben eine Streitschrift vorgelegt, die in eine ähnliche Richtung zu gehen scheint. Unklar bleibt allerdings, ob die beiden Hochschullehrer der Rechts- und Politikwissenschaften darin den Öko-Durchsetzungsstaat einfordern oder vor ihm warnen.

Zahnloser Leviathan

1993 veröffentlichte der Feuilleton-Dichter Hans Magnus Enzensberger seinen Essay „Aussichten auf den Bürgerkrieg“, in dem er das Ende des „regulierten Krieges“ verkündet und den weltweiten Kampf aller gegen aller vorhersagt. Enzensberger bezieht sich wiederum auf den Philosophen Thomas Hobbes, der sich im 17. Jahrhundert, geprägt vom englischen Bürgerkrieg, einen Frieden nur unter einem allmächtigen Staat („Leviathan“) vorstellen konnte. Der von Dimmel und Noll gewählte Buchtitel spielt also gleichzeitig auf Enzensberger und Hobbes an. Was für Letzteren der Bürgerkrieg war, ist für die beiden Österreicher die Corona- und die Klimakrise.

Die Pandemie habe gezeigt, so das Autoren-Duo, dass der sich liberal nennende, aber in Wahrheit nur wirtschaftsliberal agierende Staat gescheitert sei. Während es Ländern mit einer „autoritären Variante des Kapitalismus“ wie Südkorea, Taiwan, Japan oder China gelungen sei, die Pandemie frühzeitig einzudämmen, habe man im Westen alles dem Markt überlassen und sich in der Politik damit begnügt „Staat zu spielen“.

„Der Markt tat das“, diagnostizieren die Autoren, „was er immer tut: er versagte. Lieferte falsch, zu spät oder gar nicht, ermöglichte Hasardeuren und Polit-Gangstern Geschäfte und Provisionen mit illegalen Produkten, falschen Masken, Vakzinen ohne Herkunftsnachweis.“ Dem Souverän sei nur eine medial inszenierte Politik des Spektakels geboten worden, nötig gewesen „wäre ein starker, klare Regeln effektiv anwendender und durchsetzender Staat“. Am Ende (es ist nicht vorbei) habe die Pandemie vor allem zu einer Umverteilung von unten nach oben geführt: Großunternehmen konnten ihre Gewinne maximieren, kleine Betriebe und Organisationen meldeten Insolvenz an. Die Gesellschaft stand – auf Abstand – ratlos daneben und spendete Kassiererinnen und Krankenschwestern Applaus.

Von der Corona- zur Klimakrise

Dass mehr als ein Zusammenhang zwischen der Corona- und der Klimakrise besteht, bemerken die Autoren völlig zu Recht: „Covid-19 ist Widerspiegelung, Ausdruck und Ergebnis jener Wirkkräfte und Triebfedern, welche zugleich auch die Klimakatastrophe erzeugt haben“ – also industrielle Landwirtschaft, Vernichtung von Rückzugsräumen für Wildtiere, globale Handelsketten. Auch in der Klimakrise agiere der liberale Staat hilflos. Obwohl im Grunde „uns allen“ bewusst sei, dass „der Klimawandel als Katastrophe stattfindet und fortschreitet“, komme auch in der Gesellschaft „keine kritische Masse zustande, um das zu tun, was doch alle Einzelnen als notwendig erachten“. Die notwendige ökosoziale Wende, die erforderlich ist, um einen Kollaps der Biosphäre zu verhindern, könne man, wie Dimmel und Noll schlussfolgern, nur noch von einem global agierenden „Öko-Leviathan“ oder „Climate Leviathan“ erwarten: „ein starker, direktiver, und ja: autoritär agierender Staat, welcher den vermeintlichen wirtschaftlichen Freiheiten des Produzierens und Konsumierens Schranken setzt.“

Die Autoren scheinen vor ihrer Forderung jedoch selbst zu erschrecken. Beinahe beruhigt geben sie einige Seiten später zu, dass die politischen Eliten der Nationalstaaten „den Teufel tun werden und ihre Macht an eine supranationale Entität übertragen“. Weiterhin sei es die Gretchenfrage, „welcher demokratischen Legitimität sich dieser Staat verpflichten würde“, denn, „solange sich die Unmündigen aller Couleur der stattfindenden Katastrophe nicht bewusst werden“, könne man von „der postulierten Weltherrschaft eines vernünftigen Öko-Leviathan bloß träumen“.

Die Frage der Gewalt

Besonders interessant wird es, wenn sich Dimmel und Noll zur Gewaltfrage äußern. Obwohl sie sich gegen jeglichen „Öko-Terrorismus“ aussprechen, verfallen sie gelegentlich einem RAF-Sound: „Wir reden keiner Gewalt gegen Personen das Wort. Aber wir reden mit offenem Visier einer Gewalt gegen Verhältnisse, Dinge und Ansprüche das Wort.“ Da sie aber Österreicher und keine Deutschen sind, hilft ihnen die Ironie aus dem selbstgerechten Rigorismus wieder heraus: „Wir hüten uns als über 60-Jährige, guten Gewissens der interpersonellen Gewalt das Wort zu reden; höchstens dann, wenn es wirklich nur noch darum geht, mit Anstand kaputtzugehen. Interpersonelle Gewalt ist beinahe durchgängig Ausdruck monomaner Diskurslosigkeit.“ Sympathisch ist auch die Forderung, sich als „Machtlose“, dem „Verfügungsanspruch der Gewalttäter gegenüber der Natur zu verweigern“ und die Mächtigen „zu blockieren, ihren Lebensstil zu ächten, sie gesellschaftlich zu isolieren“.

Dimmel und Noll geben sich durchweg radikal und verachten alle „sich konsensfähig gebenden Gänseblümchen-RednerInnen“. Das könnte man ihnen vielleicht noch durchgehen lassen, aber ärgerlich wird es, wenn sie über die Naivität der „halb gemütlichen, halb esoterischen Forderungen nach Achtsamkeit, Solidarität und Kooperation, Entschleunigung, Zeitwohlstand und Konvivialität“ spotten, mit denen sich die „Freunde des Urban-Gardening und des Dritte-Welt-Ladens begnügen wollen.“ Es stimmt zwar, dass es in den beschriebenen Milieus Menschen gibt, die glauben, dass die Katastrophe durch den Rückzug in den privaten Wirkungskreis aufgehalten werden kann, und dabei übersehen, dass sich „die Mechanismen der Kapitalakkumulation hinter ihrem Rücken durchsetzen“, aber trotzdem wird hier das Kind mit dem Bade ausgeschüttet.

Gerade weil der Staat im Großen zu scheitern droht, kann es unter, neben und abseits von ihm nicht genug soziale Experimente und Reallabore einer vielleicht verallgemeinerbaren Lebensweise geben. Diese Versuche sind, wie Gustav Landauer es ausdrückte, immerhin „Anfänge“. Schließlich geben die Autoren selbst zu, dass ein „Climate-X-Szenario einer friedlich-demokratischen Entwicklung vor allem auf regional-lokaler Ebene über politische und institutionelle Grenzen hinweg entlang der Gebote von Vernunft und Nachhaltigkeit, wie dies indigene Völker in Kanada tun“ möglich ist. Der Leser atmet noch einmal auf, wenn die radikalen Revolutions-Rentner bekennen: „Ohne die Institutionalisierung neuer partizipativer Mechanismen der Mitsprache bei allen politischen, wirtschaftlichen und sozialen Fragen wollen wir keine Zukunft.“

Wird Papa Staat es richten?

Dimmels und Nolls Polemik ist über weite Strecken glänzend geschrieben, viele Sätze streicht man sich an („Die Zukunft wird zur Müllhalde der Gegenwart“). Hin und wieder verlieren sich die Autoren in einem marxistischen Jargon oder betreiben zu viel „Namedropping“.

Alles in allem erfüllt die Streitschrift ihr Ziel: Sie sorgt für Streit, wie die abgedruckte Replik aus der Feder Ulrich Brands beweist. Der Politikprofessor lobt den Text als überzeugende Gegenwartsanalyse, bleibt aber bei den Lösungsvorschlägen skeptisch. Obwohl auch für ihn kein „revolutionäres Subjekt“ in Sicht ist, will er weiterhin auf den politischen Druck von unten und eine ökosoziale Staatsübernahme hoffen.

Würde das zu einem Öko-Leviathan mit menschlichem Antlitz führen? Aus weiter Ferne warnt Altmeister Bakunin: „Selbst wenn der Staat das Gute befiehlt, er beschmutzt es, weil jeder Befehl die Empörung der Freiheit herausfordert, weil das Gute, wenn es befohlen wird, das Übel wird. Die Freiheit, die Sittlichkeit und Würde des Menschen bestehen gerade darin, dass er das Gute tut, nicht weil es ihm befohlen wird, sondern weil er es begreift, weil er es will und liebt.“

Johann Thun

 

Link: https://www.grueneliga-berlin.de/publikationen/der-rabe-ralf/aktuelle-ausgabe/rezensionen-16/#leviathan