Ein sprachmächtiges Debüt aus Chile zeigt, wie vielfältig die Literatur der Vergangenheit begegnen kann – sei es die eigene oder die des Landes.

Felipe streift nachts durch die Straßen von Santiago de Chile und sucht nach Toten. Sie hängen an Brücken, liegen an Bushaltestellen, treiben im Mapocho- Fluss und sind mitten auf der Straße. Felipe muss sie zählen, er muss wissen, wie viele es gibt. Die Diktatur ist zwar seit gut 20 Jahren vorbei. Aber Felipe muss wissen, wie viele Menschen von den Militärs verschleppt, gefoltert und getötet wurden. Er braucht die Differenz von Geborenen und Verstorbenen.

DIE LAST DER ERINNERUNG MIT SPRACHMACHT SCHULTERN

Felipe ist eine der drei zentralen Figuren in Alia Trabucco Zeráns beeindruckenden Debütroman Die Differenz, in dem Felipe rückblickend in Ich- Form erzählt. Die zweite Erzählerin, mit der er sich abwechselt, ist Iquela, sie sind zusammen aufgewachsen und auch als junge Erwachsene noch eng verbunden. Sie bekommen Besuch von Paloma, die vor Jahren mit ihren Eltern nach Deutschland gegangen ist, und nun ihre Mutter in ihrer Heimat beerdigen will. Wegen einer Aschewolke über Santiago kommt das Flugzeug mit dem Sarg der Mutter nur bis ins argentinische Mendoza. Also machen sich die drei auf den Weg dorthin.

In eindrücklichen, aufgeladenen und unvergesslichen Bildern spürt „Die Differenz“ den Folgen der Diktatur in den Leben der drei klar kontuierten Figuren nach. Sie waren damals noch Kinder, haben nicht im Einzelnen verstanden, was vor sich geht, aber die Gewalt, Grausamkeiten und Ängste dieser Zeit haben sich auch in sie eingeschrieben. Und Zerán findet dafür eine originäre, mächtige, poetische Sprache, die einen fast erdrückt und immer wieder voller tiefschwarzem Humor steckt. Diesen Roman vergisst man nicht.