Der Sudan ist seit dem 1. Januar 1956 unabhängig. Thomas Schmidinger beschäftigt sich mit den »unvollendeten Revolutionen« seither: 1964, 1985 und 2019. Der letzte Versuch hatte zum ersten Mal eine breite soziale Basis — und dauert bis heute an. Im Buch erfahren wir etwas zum Lernprozess der »Revolutionärinnen« und wie sie auf Grundlage früherer Erfahrungen — auch in anderen Ländern – eine »Wiederholung der Geschichte« zu verhindern versuchen. Die Revolution sei »eher als langsamer Prozess denn als einmaliges Ereignis zu verstehen«.

Zunächst schildert Schmidinger die geschichtliche Herausbildung der sehr unterschiedlichen kulturellen und sprachlichen Bedingungen sowie der Produktionsweisen und Lebensformen im Sudan. Islamisierung, Arabisierung, später die türkisch-ägyptische und danach die anglo-ägyptische Kolonialisierung haben das Land geprägt.

Die Proteste 1964 gegen das Militärregime, das weder die ökonomischen Probleme lösen noch den Krieg im Südsudan beenden konnte, führten zur Auflösung des Regimes und in eine kurze Periode eines parlamentarischen Mehrparteiensystems mit Frauenwahlrecht. Dies brachte jedoch keine Stabilität, 1969 kam es zum Militärputsch durch Dschafar an-Numairi, der »sozialistische« Reformen nach ägyptischem Vorbild durchführte. 1972 konnte er den 17-jährigen Bürgerkrieg mit den südsudanesischen Rebellen beenden. 1981 wechselte er zum Islamismus und führte 1983 die Scharia ein. Anfang 1985 kam es zu einer massiven Treibstoffknappheit, Numairi verkündete weitere Preissteigerungen auf Brot und Zucker. Das führte zur Intifada (Aufstand) gegen seine islamistische Militärdiktatur. Eine der Kampfparolen dabei war: »Die Weltbank wird uns nicht regieren.«

Trotz aller Differenzen und militärischen Umstürze behielt über alle Phasen hinweg eine relativ kleine Gruppe von Familien die politische Macht im Sudan.
1989 folgte der Putsch von Umar al-Bashir. Mit seinem repressiven Regime machte er das Land zum Musterland von Weltbank und IWF. Schmidinger charakterisiert seine Militärdiktatur als »neoliberalen Gefälligkeits- und Klientelkapitalismus«. Der Boom, der zum Großteil auf engen wirtschaftlichen Beziehungen mit China beruhte, dauerte bis zur Weltwirtschaftskrise 2008.

2011 wurde das »brüchige Land« in Sudan und Südsudan aufgeteilt. Damit verlor der Sudan rund 40 Prozent seiner Öleinnahmen. Die Wirtschaftsleistung ging um fast vier Prozent zurück. Ein noch stärkerer Rückgang konnte durch Goldschürfen verhindert werden.
Inmitten der Teilung des Landes brach die Protestbewegung 2011 aus, die sich als Teil der aufständischen Bewegungen in Nordafrika empfand. Zu Beginn war sie eher getragen von formell höher gebildeten Schichten — trotzdem ging es durchaus auch um soziale Fragen. Immer mehr und breitere soziale Schichten beteiligten sich, das Bindeglied bildeten die Lehrerinnen. 2013 entstand dann die Sudanese Professionals Association (SPA) aus einer unabhängigen Gewerkschaft der UniversitätsdozentInnen, dem unabhängigen Lehrerinnenkomitee und einer Ärztegewerkschaft. Die Proteste wurden massiv unterdrückt, was zu einer noch stärkeren Politisierung der Bevölkerung führte; Organisationsstrukturen bildeten sich heraus.

Anfang 2017 ergriff die Lehrergewerkschaft die Initiative, um die SPA wieder zu aktivieren. Derweil verschlechterte sich die ökonomische Lage drastisch: Von 3015 Dollar 2017 sank das Bruttosozialprodukt pro Kopf auf 977 Dollar im Jahr 2018, es fehlten auch Grundnahrungsmittel, und die Inflation war sehr hoch.
In den Protesten, die Ende 2018 begannen und zum Sturz des Regimes führten, war die SPA das »strategische Zentrum«, ihre Website die »zentrale Kommunikationsplattform«. Schmidinger sieht vom 19. Dezember 2018 (Ausbruch von Protesten in mehreren Städten) bis zum 21. August 2019 (Abdalla Hamdok wird Ministerpräsident der Übergangsregierung) mindestens vier verschiedene Phasen: die Proteste gegen al-Bahir; die Herrschaft des Transitional Military Councils (TMC) und Gegenproteste; die Verhandlungsphase zwischen TMC und Forces of Freedom and Change; die Übergangsherrschaft durch den Sovereignty Council und die Übergangsregierung.
Bei den Protesten standen von Beginn an sozio-ökonomische Themen im Vordergrund, es wurden aber auch sehr schnell grundsätzliche Forderungen nach einem anderen politischen System formuliert. Menschen aus allen Landesteilen, aus allen der mindestens zehn großen Sprachgruppen waren aktiv.

Zu den Widerstandskomitees siehe z.B. resistancecommittee.com oder das Interview auf rdl.de: »Sudan: Basisgruppen trotzen seit Monaten dem Militär« Aktuelle Infos von Aktivistinnen gab es bei einer Infoveranstaltung mit Thomas Schmidinger am 4.3.2022 im Kiezladen Sonnenallee in Berlin. Die Erhebung begann in der Eisenbahnerstadt Atbara, in der bereits die frühe sudanesische Arbeiterinnenbewegung 1946 ihren Ausgang genommen hatte. »Atbara war während der gesamten Herrschaft von Umar al-Bashir eine oppositionelle Stadt geblieben. Dafür hatte das Regime die Stadt ökonomisch vernachlässigt und alles daran gesetzt, den Verkehr des Landes von der Schiene auf die Straße zu verlagern.«
Al-Bashir ließ das Internet zensieren und verhängte Ausgangssperren. Es gab hunderte Verhaftungen, auf einer Demo am 7. Januar 2019 kamen 19 Menschen ums Leben, 800 wurden verhaftet. Die SPA rief zu Demos und Versammlungen an verschiedenen Orten in den Städten auf »Schon vor den jeweiligen Demonstrationen trafen die Menschen in der Gegend der vereinbarten Proteste ein. Meist wurden dafür ohnehin belebte Orte gewählt, in denen Demonstrantinnen nicht von anderen Passantinnen zu unterscheiden waren. Man traf sich auf dem Markt, an einem belebten Innenstadtplatz oder zum Teetrinken. Zum abgemachten Zeitpunkt entstand dann innerhalb kürzester Zeit ein Flashmob, der Parolen skandierte und Transparente entrollte. Einige filmten die Aktion mit Smartphones und verbreiteten sie.«

Nachbarschaftskomitees

Diese Infos wurden aber auch von der Polizei gelesen — diese konnte so schnell reagieren und war oft gleichzeitig mit den ersten Demonstrantinnen vor Ort. Man musste Methoden finden, sich davor zu schützen. Das funktionierte über Nachbarschaftskomitees, in denen sich viele persönlich kannten und so ohne elektronische Kommunikation Treff- und Zeitpunkte für Demos verabreden konnten. Diese fanden nun abseits der Stadtzentren in den Wohnvierteln statt. »Man verbarrikadierte sich zum Schutz vor der Polizei. In den Demonstrationen bildeten sich zunehmend Spezialistinnen heraus, die entweder dafür zuständig waren, Transparente zu bringen; die Demonstrationen zu dokumentieren, oder aber Tränengaskartuschen zurückschleuderten.«

Frauen

Frauen waren dabei stark vertreten und »forderten damit auch die reaktionäre Geschlechterordnung des Regimes heraus«. Auch sehr junge Mädchen waren in den Demos aktiv.
»Ganze Schulklassen von Vierzehnjährigen beteiligten sich teilweise sogar in Schuluniform … Sämtliche Aktivistinnen beiderlei Geschlechts, mit denen ich über ihre Aktivitäten während der Revolution sprechen konnte, betonten, dass die Frauen und Mädchen eindeutig die Mehrheit der 66 Demonstrantinnen waren. Einige erklärten sich dies damit, dass Frauen und Mädchen einfach mehr unter dem Regime gelitten und deshalb das größere Interesse an einem Regimewechsel gehabt hätten.« Bei den meisten Demos seien rund zwei Drittel Frauen und Mädchen gewesen, die durchaus auch militante Rollen übernahmen.

Selbstorganisierung statt »Aufstand«

Aus den vorherigen Umsturzversuchen haben die Menschen laut Schmidinger vor allem den Schluss gezogen, dass es nicht um einen »Aufstand« geht, sondern um gesellschaftliche Umwälzungen. »Die sudanesische Protestbewegung führte auch militante Kämpfe und verteidigte sich gegen Angriffe der Polizei. Sie entschied sich allerdings aus taktischen und strategischen Gründen bewusst gegen eine Militarisierung der Auseinandersetzung. Die Negativbeispiele Syrien, Libyen oder Jemen vor Augen, war der sudanesischen Protestbewegung klar, dass in einer Militarisierung nicht nur ein enormes Zerstörungspotenzial liegt, sondern auch, dass es sich bei einer militärischen Auseinandersetzung um eine Ebene handelt, die die Protestbewegung nicht gewinnen könnte.« Sie suchte ihre Machtmittel stattdessen in der Selbstorganisierung.

Am Ende des Buchs kommen 25 Interviews mit Politikerinnen, Guerillakommandanten, Intellektuellen und Aktivistinnen von 1999 bis 2020 (da-von nur sechs mit Frauen). Leider fehlen Interviews mit Arbeiterinnen. Seit dem Erscheinen des Buchs ist im Sudan viel passiert: Putsch, Wiederkehr von Hamdouk, Sudan ohne Regierung … Die Militärs, die im Oktober 2021 die Macht übernahmen, stoßen auf »be-merkenswerten« Widerstand. In der Hauptstadt Khartum wird meist zweimal die Woche demonstriert. Die »Gegenmacht von unten« in Form von »Stadtteilkomitees/lokalen Rätestrukturen« organisiert nicht nur die Proteste und die Verteidigung in den Stadtvierteln, sondern kümmert sich auch um das »tägliche Leben«, so Schmidinger Ende Februar. Seit 2019 sind mehrere tausend solcher Komitees gegründet worden. Die Aktivistinnen erzählen, dass die Parteien (von Umma-Partei bis KP) in ihnen wenig Einfluss haben. Offensichtlich funktionieren diese Graswurzelkomitees anders als z.B. die Stadtviertelkomitees in der Iranischen Revolution 1979, die ihre Treffpunkte in Moscheen hatten und den Mullahs nahestanden — oder in Ägypten 2011 bis 2013, die total unbedeutend blieben. Wer sich mit Revolutionen (nicht nur im Sudan) theoretisch wie praktisch beschäftigen will, sollte das Buch lesen.