Marlene Streeruwitz’ engagiertes „Handbuch gegen den Krieg“ ist auch eine Bilanz ihres kritischen Denkens

[1] Marlene Streeruwitz „Handbuch gegen den Krieg.“ ist zugleich ein Handbuch für den Frieden, für die (Menschen-)Liebe, für die Demokratie, für die Grundrechte.

[2] Das „Handbuch“ hat rund 80 Seiten Text, und auch das Großoktav-Format überrascht bei einem „Handbuch“. Man hat es noch nicht aufgeschlagen, da hat es schon irritiert. Es ist in Ganzleinen gebunden und kostet 19,90 Euro. Letzteres signalisiert, dass es sich nicht um eine Schrift für das schnelle und vielleicht nur einmalige Lesen handelt.

[3] Rein äußerlich erinnert mich das Buch an Voltaires „Dictionnaire philosophique portatif“ (1764), das in ähnlicher Weise auf ein damals wohlbekanntes Format (Dictionnaire) rekurrierte und dann doch schon beim ersten Anblick irritierte.

[4] „Irritation“ ist positiv gemeint. Schon die allererste Begegnung muss irritieren. Das trägt dazu bei, das Lesen und Nachdenken zu einem produktiven Prozess werden zu lassen. Das „Handbuch“ ist ein Buch, das sich gut in der Hand anfühlt, es ist nicht zu schwer für eine Hand – im Gegensatz zu üblichen Handbüchern im Quartformat oder noch größer. Irritation und haptische Anziehungskraft spielen miteinander.

[5] Im Innern entfaltet sich gleichwohl ein „Handbuch“. Aufeinander folgen 34 Einträge, die meistens mit „Krieg ist“ – es folgt das „ist“, z. B. „Krieg ist unsere kulturelle Gründungsgeschichte.“ (S. 35) – überschrieben sind. Jede Überschrift endet mit einem Punkt, so wie auch der Buchtitel am Ende ungewöhnlicherweise einen Punkt hat. Das mutet fast schon autoritativ an, während sich die Autorin inhaltlich gegen das Auktoriale wendet. Aber für mich sind die Punkte gerechtfertigt, so gründlich durchdacht ist das Aufgeschriebene, selbst da, wo ich nicht ganz zustimmen kann. Die Einträge sind insgesamt eher kurz, von wenigen Zeilen bis ca. drei Seiten Länge.

[6] Auslöser für die Schrift ist Putins Krieg gegen die Ukraine, aber es geht grundsätzlich um „den“ Krieg, wie es um „den“ Frieden, „die“ Liebe (zum Menschen), „die“ Demokratie und „die“ Grundrechte geht. So grundsätzlich die Gedanken sind, so geht es doch kulturräumlich eher um Europa und teilweise um Österreich.

[7] Mehrere Perspektiven ziehen sich durch die Einträge, von denen der letzte keine Überschrift trägt, sondern beginnt mit: „Es ist Frieden“.

[8] Eine wesentliche Perspektive ist jene, die schon als Überschrift eines Eintrags zitiert wurde: „Krieg ist unsere kulturelle Gründungsgeschichte.“ Frieden wird nur dann sein können, wenn die Eigenart dieser Gründungsgeschichte, ihre Perpetuierung bis heute und die Folgen daraus offen gelegt und verstanden werden, sodass die Weichen anders gestellt werden können, so wie es der letzte überschriftslose Eintrag über den Frieden sagt, gewissermaßen in die Zukunft hin offen sagt, da es keine mit Punkt abgeschlossene Überschrift mehr gibt. Ich zitiere den Eintrag vollständig:

[9] „Es ist Frieden. Und. Um alles richtiger zu machen, damit es richtig wird. Wir werden unsere Leben ernster nehmen müssen darin, in welchen Zusammenhängen und mit welchen Folgen wir in der Welt sind. Das Recht auf Frieden gilt weltweit. Das Recht auf Frieden weltweit durchzusetzen bedeutet gleichzeitig die Erhaltung der Welt demokratischerweise mitzudenken. Frieden für alle hieße alle Ressourcen für alle. Frieden ist ein anderes Wort für Gerechtigkeit.“ (S. 79)

[10] Jeder Eintrag, auch die kürzesten, sind so dicht, dass jeder Eintrag im Grunde alles, was die Autorin schreibt, in jeweils eigenen Formulierungen enthält. Krieg unterbindet alles, was zum Frieden, der nur ein globaler sein kann, führen würde. Es ist nicht nur die militärische Zerstörung und Gewalt, die Krieg ausmacht, sondern auch die Art des „neoliberalen“ Wirtschaftens diene dem Krieg.

[11] Die inhaltliche Ausrichtung der Schrift erhellt sich sehr gut aus den Überschriften der Einträge. Einige seien exemplarisch aufgeführt: „Krieg ist das Gegenteil des Demokratischen.“ „Krieg ist die Institution des Rassistischen.“ „Krieg ist Bühne.“ „Krieg behauptet immer die Eroberung irgendeines Paradieses.“ „Krieg ist die Grammatik der Mächtigen.“

[12] Den Frieden für Alle möglich zu machen, würde nicht zuletzt bedeuten, die Familie aus den Zwängen patriarchaler Männlichkeit zu befreien, die, so scheint es mir, bei Streeruwitz dasselbe wie hegemoniale, toxische Männlichkeit bedeutet. Auch wenn das allein nicht reicht.

[13] Unter den letzten Einträgen (ab S. 61) folgen kurze Untertexte, die Hinweise geben, was zu tun wäre, um Zivilisation von Krieg auf Frieden umzustellen. Zum Beispiel (S. 70): „Es wäre schön, wenn einmal eine Generation ohne die selbstverständliche Traumatisierung und Zurichtung durch strukturelle Gewalt aufwachsen könnte. Wir kennen eine solche Möglichkeit gar nicht. Aber. Wir müssen uns auf einen solchen, uns vagen Entwurf hinbewegen.“

[14] Als Historiker lese ich die Schrift auch als Historiker. Streeruwitz bietet eine historische Kulturtheorie. Wäre ich noch im universitären Lehrbetrieb tätig, würde ich einen ganzen Kurs auf der Grundlage dieser Schrift mit den Studierenden machen. Jeder Satz entfaltet soviel, dass ein Semester nicht reichen würde. Jeder Satz lädt zugleich zur kritischen Lektüre ein.

Denken wir jede Sekunde eines jeden Tages daran, dass fortgesetzt grundlos Menschen in der Ukraine sterben, weil Putin es so will.