Marlene Streeruwitz’ engagiertes „Handbuch gegen den Krieg“ ist auch eine Bilanz ihres kritischen Denkens

Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine hätte für Marlene Streeruwitz Grund genug sein können, sich bestätigt zu sehen in ihrer kritischen Analyse der bisher fehlerhaften Versuche von Menschen, sich in Gesellschaften eine gemeinsame Zukunft aufzubauen. Das ist natürlich ein zynischer Gedanke, der sich auch für eine Autorin, die in Dramen und Romanen Exzesse von Gewalt als warnende Beispiele, und daher stets verfremdend, vor die Augen von Zuschauer:innen und Leser:innen geführt hat, ganz selbstverständlich verbietet. Kunst ist Kunst und Krieg ist Krieg.

Die Schriftstellerin Marlene Streeruwitz interessiert sich vor allem für Machtstrukturen und ihre Ursachen. Würde sie nicht literarische Texte schreiben, könnte man/frau sie als Diskursanalytikerin in der Nachfolge Michel Foucaults beschreiben, auf den sie sich oft genug bezieht, auch wenn sie dabei nur selten seinen Namen nennt. Der entscheidende Unterschied ist, dass sie die Ursachen ungerechter Machtverteilung in der patriarchalischen Gesellschaftsordnung sieht, in einer von Beginn an auf das ‚Männliche‘ zentrierten Ordnung, die das ‚Weibliche‘ nicht zulässt oder zumindest so weit abwertet, dass es immer das Defizitäre, das Untergeordnete, das dem ‚Männlichen‘ Dienende bleibt.

Aus dieser Perspektive betrachtet ist Krieg die maximale Entfesselung patriarchalischer Ordnung. Und wer möchte dem widersprechen, die/der dem derzeitigen Geschehen folgt, das von einem russischen Präsidenten ausgelöst wurde, der schon immer seine vorgebliche ‚Männlichkeit‘ bestmöglich massenmedial inszenierte und dabei alle nur denkbaren Männlichkeitsrituale durchdeklinierte. Wie viele Frauen sich dieser Pfau im Kreml gefügig gemacht hat, wie viele Kinder sich einer solchen strukturell zementierten, sexuellen Unterwerfung verdanken, soll vermutlich absichtsvoll im Ungewissen bleiben, um sie ins Mythische zu überhöhen. Und wer die Berichterstattung über den Krieg verfolgt, die/der sieht Männer, die den Kampf organisieren, die kämpfen und siegen oder besiegt werden – und Frauen, die durch die Macht der Bilder in ihrer passiven Rolle der Opfer bestätigt werden.

Doch auch darum geht es in dem Handbuch gegen den Krieg. eigentlich nicht, es nimmt nicht auf den Ukraine-Krieg besonders Bezug, sondern behandelt das Thema in einer so allgemeinen Weise, dass darin auch eine Bilanz der bisherigen Auseinandersetzung der Autorin mit ihrem Schreibens-Thema gesehen werden kann. Freilich ist Marlene Streeruwitz’ Werk von Beginn an so angelegt, dass jede neue Veröffentlichung als eine Bilanz des Bisherigen gelesen werden kann und soll. Doch in diesem Fall – und noch mehr als in dem poetologischen Band Geschlecht. Fall. Zahl.: Vorlesungen 2021 – verdichtet die Autorin, unter dem Eindruck der von Bundeskanzler Olaf Scholz beschworenen „Zeitenwende“, ihre kritischen Analysen auf gerade mal 79 Seiten.

Ein Handbuch von 79 Seiten – darin zeigt sich einmal mehr das Paradoxale, das der Kunst zugrunde liegt. Was in der Wissenschaft eine erweiterte Einführung wäre, ist in diesem Fall ein aktuelles Kondensat jahrzehntelangen Denkens, das auch auf 790 Seiten nicht mehr an Substanz liefern würde. Dadurch gewinnt Literatur als Kunst ihre, so hat es der Soziologe Niklas Luhmann in Die Kunst der Gesellschaft genannt, „unwahrscheinliche Evidenz“ (Niklas Luhmann: Die Kunst der Gesellschaft. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1997, S. 191).

Der Begriff des „Handbuchs“ wird also auf radikal neue Weise gedacht, so wie das in dem Handbuch enthaltene Weltbild für die nicht mit dem Werk der Autorin vertrauten Leser:innen radikal neu sein dürfte – weshalb es vermutlich auch zu der Publikation in einer gerade erst gestarteten Reihe eines kleinen Wiener Verlags gekommen ist. Streeruwitz’ Hausverlag S. Fischer wollte dieses Wagnis vielleicht nicht eingehen – aber darüber zu spekulieren dürfte müßig sein. Einerseits hätte die Veröffentlichung des schmalen, gewichtigen Bandes in einem großen Publikumsverlag ihm mehr Aufmerksamkeit geschenkt, andererseits passt gerade die „Bibliothek des Alltags“ eines Kleinverlags besser zu dem rebellischen Gestus des Texts.

Schon die erste Zeile inszeniert die für das Werk der Autorin konstitutive ständige Selbstprüfung und das damit verbundene, stets immer neue Wiederanfangen: „Krieg. Und. Alles ist falsch.“ (S. 5). (Die eigenwillige Grammatik und Interpunktion, insbesondere der stets mitzuschreibende Punkt, gehören zu den absichtsvollen, distanzerzeugenden Irritationen auf formaler Ebene.) In den Überschriften der in der Regel nur ein bis zwei Seiten kurzen, notathaften Texte werden die folgenden Ausführungen thesenhaft zusammengefasst: „Krieg ist das Gegenteil von Zivilisation“ (S. 7), auch von „Ethos“ (S. 9), Demokratie (S. 11) und allem anderen; Krieg ist Rassismus (S. 15), „Missbrauch aller“ (S. 19) und vieles mehr. Krieg ist der Gegenentwurf zu allem, was als menschlich angesehen werden kann, und es ist dennoch „das stabilste Modell“ der historischen Entwicklung „in unseren Kulturen“ (S. 13). Krieg ist aber auch „Bühne“ (S. 25) und lebt in modernen Gesellschaften von seiner (massen-)medialen Inszenierung (vgl. S. 45f.). Dabei verspricht Krieg „immer die Eroberung irgendeines Paradieses“ (S. 33), die Urheber des Krieges arbeiten mit Heilsversprechungen.

Dass es möglich ist, dass Menschen sich so sehr an der Nase herumführen lassen, etwas moralisch und menschlich radikal Böses als potenziell Gutes zu akzeptieren, führt das Handbuch. auf das Streben nach „Erfüllung […] auktorialer Anordnungen“ zurück (S. 35). Wer sich nicht daran beteiligt, wird mittels „Pseudoempathie“ (S. 41) in Geiselhaft genommen: „Gesellschaftlich rationales und soziales Handeln wird zum Verbrechen gegen diese aufgezwungene Realität“ (S. 39). Der von der Autorin in ihren vorangegangenen poetologischen Texten, etwa den genannten Vorlesungen von 2021, als „Kosmos der Pflege“ (S. 43) ausgewiesenen ‚weiblichen‘ Strukturen, die als Grundlage einer nicht (mehr) patriarchalischen Gesellschaft dienen können, geraten noch weiter ins Hintertreffen, weil sie in der Aufgeregtheit des Kriegs als ‚langweilig‘ gelten (vgl. ebd.).

Krieg ist also erstens serieller „Mord“ (S. 63) wie jeder Mord und „das Gegenteil von Leben“ (S. 61). Krieg ist zweitens Ergebnis einer patriarchalischen Ordnung, die auf der „Traumatisierung und Zurichtung durch strukturelle Gewalt“ (S. 70) aufruht. Wem das zu negativ ist, die oder der sollte bis zum Schluss lesen, denn das zur Kunst geronnene kritische Denken bietet zumindest die Möglichkeit, dem eine Vorstellung von positiver Veränderung entgegenzusetzen. Literatur, die als Kunst verstanden sein will, setzt sich für Demokratie ein und „Demokratie bedeutet die Aufgabe des allwissend auktorialen Entwurfs“ (S. 71).

Literarhistoriker:innen wissen, dass Literatur auch ganz anders konzipiert sein und wirken kann. Von diesem Handbuch. ausgehend wäre es möglich, einmal zu bilanzieren, mit welchen Strategien Literatur eigentlich für oder gegen eine ungleiche Machtverteilung in den Gesellschaften wirkt oder wirken kann. Doch das wäre ein hier zu weit führendes Thema. (Ansätze finden sich etwa bei Stefan Neuhaus u. Immanuel Nover, Hg.: Das Politische in der Literatur der Gegenwart. Berlin u. Boston: de Gruyter 2019.)

Das Handbuch gegen den Krieg. tritt in weißer Leinenoptik vor die Augen seiner Leser:innen, nicht in dem düsteren Schwarz, das der Krieg in der Ukraine, der sich immer noch zu einem Weltkrieg ausweiten kann, eigentlich verlangen würde. Das ist nur konsequent, will dieser schmale Text doch trotz seiner desaströsen Bilanz der bisherigen Entwicklung der Menschheit seinen Leser:innen Mut machen, endlich einmal zu beginnen, das Ruder herumzureißen. Das ist nicht das Pfeifen im Walde, sondern der Baum, der auch dann gepflanzt wird, wenn es morgen für alles Leben zuende sein könnte. Was bleibt, ist die Hoffnung – wenn ihr Konzepte vorausgehen und Veränderungen folgen.