Louise Michels Texte und Reden sind düster, erhaben und zukunftsfähig

«Die Träumer sind die Poeten und die Poeten sind die Propheten», schrieb die Sozialrebellin Louise Michel einmal. Diese Idee ist nicht neu. Den Glauben daran, dass Poesie mehr ist als gereimter Gefühlsausdruck, gibt es schon lange. Mit der von Eva Geber herausgegebenen Textsammlung kann Michel als wortgewaltige Untergangsprophetin kennenlernen.

 

Altantis, steige auf

Wer sich unvorbereitet auf Michels Texte einlässt, wird vielleicht vor der darin zum Ausdruck kommenden Weltsicht erschrecken. Die Autorin macht keine halben Sachen: Bei ihr gibt es nur Licht und Dunkelheit, höllische Gegenwart und paradiesische Zukunft, Kapitalismus und freiheitlichen Sozialismus. Die kommende Welt der Harmonie und des Friedens, deren Erscheinen durch Generalstreik und Revolution erzwungen werden soll, vergleicht Michel wiederholt mit den aus den Fluten wieder aufsteigenden Atlantis.

Während sich ihre poetische Begabung eher in Grenzen hält, sind Michels Prosatexte von einer düsteren Wucht, die manchmal an Arthur Rimbaud denken lässt, jenen avantgardistischen Dichter, der ebenfalls mit der Pariser Commune sympathisierte. Hervorzuheben sind auch die im letzten Teil des Buches abgedruckten Übertragungen der «Legenden der Ureinwohner Neukaledoniens». Diese Mythen sind von großer Tiefe und funkelnder Schönheit.

 

Irritierender Titel

Wie man es von Bahoe Books kennt, ist der Band ästhetisch anspruchsvoll gestaltet. Allerdings führt der Titel ein wenig in die Irre, enthält doch die Sammlung nicht nur «Texte und Reden» von Michel, sondern auch Arbeiten über sie. Gerade diese, von Michels Gegnern geschriebenen Texte – zu denen die Gerichtsberichte und der Auszug aus den Memoiren des Polizeipräfekten Andrieux gehören – sind jedoch besonders interessant. Ärgerlich sind die Kürzungen, die bei der Übersetzung von Michels «Prise de possession» («Aneignung») vorgenommen wurden. So endet ein Textteil unvermittelt nach dem Satz: «Eine Begebenheit im ungarischen Bauernkrieg von 1513 erinnert mit ihrer Grausamkeit an den Tod von Doi-van.» Der Leser erfährt nicht, um welche Begebenheit es sich handelt.

Alles in allem bietet die Sammlung eine wunderbare Möglichkeit, um sich ein stimmiges Bild von Louise Michel zu machen. Man stürme also erst die Buchläden und dann die Paläste.

Johann Thun