Alia Trabrucco Zerán erzählt von drei jungen Chilenen, die auf geheimnisvolle Weise miteinander verbunden sind. Ihre Eltern gehörten dem Widerstand gegen die chilenische Militärdiktatur an. Der Roman „Die Differenz“ ist eine bedrückende Geschichte von Verrat und Schuld, der auch die nachfolgende Generation nicht entkommen kann.

Die Chilenin Alia Trabucco Zerán gehört zur Generation von Südamerikanerinnen, die die Militärdiktaturen der Siebziger- und Achtzigerjahre gar nicht oder als Kinder erlebt haben. Dennoch treiben sie die Verbrechen der Militärs um, denn sie haben indirekt darunter gelitten – weil sie als Waisen von Widerständlern oder im Exil groß wurden. Trabucco Zeráns in Chile und Spanien hochgelobter Roman „Die Differenz“ leuchtet die Folgen für drei junge Leute aus dieser Generation aus.

Felipe ist ein Getriebener. Er streift am liebsten nachts durch die Straßen von Santiago de Chile und sucht dort nach Toten. Sie überraschten ihn schon überall, hingen an Brücken und Ampeln oder trieben den Mapocho-Fluss hinab. Die Militärdiktatur ist seit gut zwanzig Jahren vorbei, doch der junge Mann will wissen, wie viele Menschen die Militärs seit Beginn ihrer Diktatur 1974 tatsächlich verschleppt und gefoltert haben. Das heißt: Er interessiert sich für die Differenz zwischen der Anzahl der Geborenen und der Verstorbenen. Es gibt da nämlich viele, denen man kein Grab zuordnen kann. Daher der Titel des Romans: „Die Differenz“.

Felipe selbst war damals noch ein kleines Kind und hat vom Staatsterror wenig mitbekommen. Aber wenn er heute durch die Stadt streift, sieht er vor seinem geistigen Auge trotzdem überall die Opfer.

Der Chilenin Alia Trabucco Zerán macht in ihrem Roman sichtbar, wie sehr auch die nachfolgende Generation durch die sechzehnjährige Diktatur traumatisiert ist. Die heute 38-jährige Trabucco Zerán gehört damit zu einer als „hijos“, „Kinder“, bezeichneten Gruppe südamerikanischer Autoren und Autorinnen, die sich literarisch mit den psychologischen Langzeitfolgen der Diktaturen der Siebziger- und Achtzigerjahre auseinandersetzen. Dabei geht es ihnen vor allem um die Bedeutung der Verschwundenen für deren Angehörige sowie für das kollektive Gedächtnis von Ländern wie Chile, Argentinien oder Brasilien. Felipe erzählt rückblickend in der Ich-Form und er wechselt sich dabei kapitelweise mit Iquela ab. Die beiden sind zusammen bei deren Mutter Consuelo aufgewachsen. Unheilbar krank, hatte Felipes Großmutter ihn als elternlosen kleinen Jungen bei Consuelo abgeliefert. Weil sie es der Großmutter schuldig gewesen sei, sich zumindest um das Kind zu kümmern. Erst im Laufe des Romans erfährt die Leserschaft, warum das so war. Felipe und Iquela berichten über das Jahr 2011, flechten aber immer wieder Erinnerungen an ihre Kindheit ein. Dabei erschließen sich ganz allmählich die Verbindungen der beiden Familien, die im Widerstand gegen die Diktatur waren. Was das Buch sehr spannend macht.

Es gibt übrigens einen konkreten Anlass, weshalb Felipe und Iquela sich treffen: Paloma, eine Freundin der beiden aus Kindertagen, reist aus Deutschland an, um ihre Mutter Ingrid in der chilenischen Heimat zu beerdigen. Diese Ingrid und ihr deutscher Mann Hans zählten zum Freundeskreis von Felipes und Iquelas Eltern. Ingrid und Hans gehörten zu den mehr als 200.000 Oppositionellen, die damals vor den Schergen der Militärs ins Ausland fliehen konnten. Das Flugzeug mit Ingrids Sarg kann nun wegen einer Aschewolke über Santiago nicht landen und kommt nur bis ins argentinische Mendoza. Der Vulkan Puyehue hatte im Juni 2011 diese Aschewolke tatsächlich verursacht, man kann sie aber im Roman auch als Metapher lesen – noch immer liegt der Geist der Diktatur wie eine Aschewolke über dem Land und hindert die Menschen daran, sich frei von Angst zu fühlen.

Felipe, Iquela und Paloma mieten einen Leichenwagen, um Ingrids Sarg in Mendoza abzuholen – eine Höllenfahrt unter der Asche. Und ein Horrortrip für die drei: Die dunklen Geheimnisse der Eltern lasten ebenso auf ihnen wie Felipes labiler Zustand. Er ist ständig betrunken und nimmt jede Droge, die er kriegen kann. Nicht zuletzt prallen die Konflikte zwischen Exilierten und Daheimgebliebenen aufeinander.

Alia Trabucco Zerán zählt die Kapitel rückwärts, in denen Felipe spricht. Ein Countdown sozusagen. An dessen Ende ist Felipe bei seiner Zählung zumindest um einen Toten weiter. Wen interessieren hier und heute die Folgen der chilenischen Diktatur, mag man fragen. Zunächst einmal ist Alia Trabucco Zeráns „Die Differenz“ ein klug konstruierter, lebendig geschriebener Roman mit glaubwürdigen, fein ziselierten Figuren. Doch „Die Differenz“ muss außerdem als universeller Roman gelesen werden, der auffächert, wie Diktaturen über Jahrzehnte hinweg auch Spuren im Leben der Nachgeborenen hinterlassen.