Im Zentrum von Alexander Lippmanns neuem Roman mit dem Titel Innere Gewalt steht Olivia Wolf, frustrierte Mitarbeiterin einer Werbeagentur, Tochter einer psychotischen Religionsfanatikerin und Freundin eines Hobbygitarristen, der endlich den großen Hit landen möchte. Als Ausgleich zu diesen unterschiedlich anspruchsvollen Herausforderungen versucht sie sich in ihrer Freizeit im Malen und im Kampfsport. Beides betreibt sie allerdings nur äußerst halbherzig, die mit einigen lustlosen Orientierungspunkten markierte Staffelei steht zumeist zugedeckt im Wohnzimmer und keine Trainingsstätte schafft es, Olivias Ansprüchen zu genügen: “Also tat sie das, was sie am besten konnte: Sie suchte im Internet nach Entschuldigungen, ihren halb verdauten Traum nicht weiter zu verfolgen.” (56) Stattdessen geht sie zu einer Psychotherapeutin, die sie sich nur leisten kann, weil ihr öder Job zumindest eine leidlich gut bezahlte Anstellung ist: “Arbeitslose oder, noch schlimmer, freie Kreative, können sich ihren Stundensatz nicht leisten. Gelangweilte Angestellte kommen dagegen einmal in der Woche vorbei und leitende Angestellte setzen das auch noch von der Steuer ab.” (9)

Was Olivia in der Agentur, die nicht einmal ein richtiges Unternehmen ist, genau tut oder tun soll, weiß sie selbst nicht immer so genau, und ihr Chef schon gar nicht: “Ein Coach hatte ihr einmal geraten, ihren Job auf die elementarsten Tätigkeiten zu reduzieren, einfach damit sie ihm vermitteln konnte, wofür sie bezahlt wurde. Aber erstens hätte [ihn] das ohnehin nicht interessiert und zweitens war es einfach wahnsinnig deprimierend, diesem Gedankengang zu folgen.” (14) Um die inhaltsleeren Bürostunden zu füllen, hat Olivia bereits “tausend Strategien entwickelt, um die Arbeit so zu verteilen, dass jeden Tag etwas anfällt. Eine Idee zu haben, das dauert vielleicht zwanzig Minuten. Aber ein One-Pager, oder noch besser, ein Förderantrag, das kann eine ganze Woche füllen.” (29) Wichtig ist es, immer sehr beschäftigt zu wirken, also entweder frühmorgens schon im Büro zu sitzen oder abends und am Wochenende den Laptop mit nach Hause zu nehmen, um dort “weiterzuarbeiten”, und die Verantwortung für Fehler so schnell wie möglich anderen – am besten externen Partnerunternehmen oder unliebsamen Kolleg:innen – zuzuschieben. Auch Karrieresprünge funktionieren nach diesem Prinzip; Skrupel und Rücksichtnahme sind absolut fehl am Platz, wenn es darum geht, die eigene Person (denn Leistung ist ja sekundär) ins rechte Licht und auf den Chefsessel zu rücken. Dann gehört man zur “Elite” (220) und hat ein eigenes Büro mit Namensschild.

Bevor es so weit kommt, belastet Olivia aber neben der permanenten kreativen und intellektuellen Unterforderung auch die Beziehung zu ihrem Freund Paul, der als Einzelkind aus gutsituierten Verhältnissen ihre materiellen Existenzängste nur begrenzt verstehen möchte, sowie jene zu ihrer sozial und psychisch abgedrifteten Mutter, deren Zustand unter der Obhut einer dubiosen Klosterschwester Anlass zur Sorge gibt.

Was Lippmann als bitterböse Satire beginnt, die nach Sinn und Wert von Arbeit in der auf Profit und Selbstdarstellung hin orientierten Marketingbranche fragt, entwickelt sich mehr und mehr zu einem beklemmenden Psychogramm einer jungen Frau, die den Spagat zwischen den von außen auferlegten Zwängen und der “inneren Gewalt”, alles richtig zu machen und allen zu genügen, immer weniger schafft. Lippmann erweist sich dabei als aufmerksamer Beobachter, der Olivias Dilemma so empathisch wie subtil zu vermitteln vermag. Als Leser:in ist man immer wieder aufs Neue von unvorhergesehenen Wendungen überrascht, mit denen der Autor das Netz um seine traumatisierte Protagonistin enger und enger zieht. Dabei bleibt er immer glaubwürdig und stilistisch treffsicher, auch die finale Dramaturgie folgt der grausamen Psycho-Logik der Handlungsträger:innen. Wenn Olivia ihr Schicksal am Ende lakonisch mit “Man gewöhnt sich eben an alles […]. Leider.” (255) kommentiert, stellt sie sich damit selbst einen Befund aus, der desperater und endgültiger nicht sein könnte.

Lippmann ist mit Innere Gewalt ein Roman gelungen, der die Identitätsprobleme junger Erwachsener satirisch treffsicher und psychologisch überzeugend verhandelt. Beklemmend gut!