Liegt in der aktuellen COVID-19 Pandemie auch eine Chance für die Gesellschaft? Der pessimistische Grundton im Essay von Georg Seeßlen lässt grundlegende Zweifel daran aufkommen. Vielmehr skizziert der Autor den „Anbruch einer neuen ‚finsteren Zeit‘“ (8), indem er die Coronakrise als „Vorspiel“ (25) einer nahenden Katastrophe denkt. Um dies darzulegen, widmet sich der freie Journalist und Kulturtheoretiker einer Abhandlung der Krise im Allgemeinen und der Coronakrise im Speziellen. Auf die Pandemie bezogen zeigt er, manchmal sehr konkret, manchmal zu ausschweifend und unsystematisch, dass die Bewältigung der Krise nichts Gutes verheiße. Die Systemstabilisierung, die am Ende der Krisenbewältigung stehe, könne nur auf Kosten der Umwelt, durch einen Abbau der Sozialsysteme und eine Deregulierung der Arbeitsverhältnisse vonstattengehen. Auf dem Spiel stehe derzeit nichts weniger als die Existenzbedingungen der demokratischen modernen Gesellschaft.
In der Tradition der kritischen Theorie gelingt es Seeßlen, den Zusammenhang von Krise, Kapitalismus und Katastrophe anhand der aktuellen Corona-Pandemie einleuchtend, wenn auch in weiten Teilen kursorisch, nachzuzeichnen. Wichtige Fragen und Aspekte, die über die aktuelle Krise hinaus von gesellschaftskritischer Bedeutung sind, werden in „Coronakontrolle“ aufgeworfen. Das Buch, das im Sommer 2020 fertiggestellt wurde, zählt zu den ersten Abhandlungen über m.gliche Auswirkungen der COVID-19 Pandemie auf die Gesellschaft. Die „wahre Krise“ (121), wie es der Autor nennt, liege dabei in der „skandalösen“ (120) Entscheidung über „das Geopferte und das Gerettete“ (121), wenn das System gegen Menschenleben ausgespielt werde.

Krise und Opfer

Zu Beginn setzt Seeßlen die Krise mit ihren Opfern ins Verhältnis. Die Überwindung einer Krise, so unterschiedlich die Ma.nahmen auch sein m.gen, bedürfe immer Opfer. Solang aber nicht das kapitalistische System geopfert werden soll, würde sich im „Inneren“ (18) wiederholen, was an den Ländergrenzen schon längst Usus sei: „Menschenleben, Leiden, Tod ist zweitrangig gegenüber System, Ordnung, Grenze“ (18). Im Falle der Corona-Krise verdeutliche sich exemplarisch eine „strukturelle Alters- und Schwächefeindlichkeit des Kapitalismus“ (21), wenn darüber sinniert werde, ob der Schutz der ‚Risikogruppen‘ die durch Corona bedingten Einschränkungen (der Wirtschaft) rechtfertigen würden. Für Seeßlen ist folglich der Staat der „falsche Gegner“ (7) oder Adressat von Kritik. Obwohl dieser kurzfristig an Macht gewinne, sei dies bloß als „dialektische Abbildung seiner mittelfristigen Ohnmacht“ (37) zu werten. Das „Auseinanderbrechen von politischen (nationalen) und ökonomischen Interessen“ (35), führe nicht zu einem Game Change, wie von vielen gehofft. Zwar gebe es Gegennarrative zum Kapitalismus, der „sein hässliches Gesicht“ (26) angesichts des „marode[n], privatisierte[ n], profitorientierte[n] Gesundheitssystems“ (26) kaum zu verhüllen vermag. Diese würden aber weiter in den Hintergrund treten in Anbetracht der „Macht der neoliberalen Reaktion und ihrer Verbündeten in Kommunikation, Kultur und politischer Öffentlichkeit (einschließlich der Rechtspopulisten und Neofaschisten für allfällige ‚Drecksarbeit‘)“ (99).
Da die Krise dem kapitalistischen System inhärent sei, würde die Corona- Pandemie nur bestehende Krisen weiter verstärken und neue hervorbringen. Zu erwarten seien neuerliche Wirtschafts- und Finanzkrisen, mit fatalen Folgen für „Klima, Umwelt“ und das „soziale Gefüge“ (36). Die Folgekosten der Coronakrise münden, so Seeßlen, in einen verschärften „Verteilungskampf“ (40) im Sinne einer Umverteilung von unten nach oben.

Angriff auf den Körper

Ein weiterer Schwerpunkt des Buches liegt in der Thematisierung des gesellschaftlichen Umgangs mit Krankheit und den Kranken. Geradezu paradigmatisch präsentiere sich in den USA und in Brasilien das „Unheil einer verschwindenden Gesellschaft“ (12), wo das Handeln von Bolsonaro und Trump den zugespitzten neoliberalen Kapitalismus widerspiegele. Zum einen verweigerten die dortigen Regierungen staatliche Ma.nahmen zur Eindämmung der Krankheit. Zum anderen habe die eigene Erkrankung der beiden rechtsnationalen Präsidenten nicht zu einer Korrektur ihrer Coronapolitik geführt. Vielmehr nähmen sie eine fatale Verschiebung des Diskurses vor: So erklären sie aufgrund ihrer eigenen erfolgreichen Genesung die relative Harmlosigkeit des Virus. Damit, so der Autor, werde letztlich ein richtiges und falsches Krank-Sein suggeriert, womit „Opfer zu Schuldigen“ (88) werden.
Für Seeßlen zeigt sich die „Unfähigkeit, gesellschaftlich auf die Krise zu reagieren“ (58) als ein grundlegendes Problem in der Coronakrise. Den notwendigen Ma.nahmen der Pandemieeindämmung, liege ein Solidaritätsverständnis zugrunde, das staatlich verordnet an seine Grenzen stoße. Es sei insofern folgerichtig, dass es zu einem „Zerwürfnis zwischen ‚staatlicher Mainahme‘ und ‚individueller Freiheit‘“ komme, als dass das neoliberale Subjekt nicht gewillt sei, Rücksicht auf andere zu nehmen. Freiheit werde im neoliberalen Diskurs als ausschließlich subjektive Freiheit gedacht, Solidarität habe in diesem Verständnis keinen Platz.
Demgegenüber stehe eine gesellschaftliche Organisation der Pandemie. In der Diskussion solidarischer Alternativen bleibt Seeßlen allerdings vage, seine Sympathie scheint jedoch gelegentlich durch, wie sich im Zitat der „sozialen Zärtlichkeit, die sich im Maskentragen ausdrückt“ (78) andeutet.

Krise und Katastrophe

Im neoliberalen Kapitalismus ist nach Seeßlen die Krise der „Normalfall“ (83). Dies impliziert, dass weder ein Ende der Krise noch eine alte Normalität herbeigewünscht werden kann und soll: „Im Neoliberalismus wird auch der Untergang ‚normal‘, er ist Teil des Systems selbst, das auf eine neuerliche Wiedergeburt nach jeder Krise setzt“ (113). Im Ausblick auf 30 verschiedene Bewältigungsstrategien für die Coronakrise (vgl. 113 ff.), wird die „kommende Katastrophe“ (85) gezeichnet. Zum Beispiel werde die Pandemiebewältigung neue Krisen mit sich bringen, wenn im Nachgang des lockdowns die Wirtschaft auf Kosten der Arbeiter:innen und Angestellten wieder angekurbelt werde.
Abschließend legt der Autor nochmal dar, was derzeit auf dem Spiel stehe. Seeßlen befürchtet im gegenwärtigen Diskurs eine „allgemeine Bejahung des Opfers“. Werden der „Körper des realen Menschen“ und die „Gesellschaft als Diskursraum für Ideen, Phantasien, und Werte“ (130) zum Opfer, dann drohen ein „Scheitern des großen Experiments Demokratie“ und ein „Schwinden“ der „kritischen Rationalität und des liberalen Humanismus“ (138). Die Voraussetzung, die nahende Katastrophe abzuwenden, liege also nicht in der bloßen Bewältigung der Pandemie, sondern in der Überwindung des Krisenhaften. Wie genau das bewerkstelligt werden soll, l.sst See.len allerdings offen.

Fazit

So treffend die Analyse von Seeßlen an manchen Punkten ist, zum Beispiel hinsichtlich der diskursiven Vorbereitung neuer/alter Opfer des Systems, so disparat bleiben manche Zusammenhänge. Gerade im zweiten Teil des Buches verfestigt sich der Eindruck, dass dem Autor mit seiner Konzentration auf die Krise einstweilen der Gegenstand entschwindet. Nichtsdestotrotz ist dieses Buch über die Corona-Pandemie hinaus eine lesenswerte Abhandlung. Die kritische Theorie eignet sich vorzüglich, die Coronakrise mit ihren zwischenmenschlichen Abgründen zugunsten des Systems zu analysieren. Angesichts eklatant zunehmender sozialer Ungleichheit, die bestehende Ausschlüsse wie beispielsweise von Frauen und Migrant*innen weiter verschärft, bleibt nach der Lektüre von „Coronakontrolle“ die besorgte Frage, wer die noch kommenden wirtschaftlichen Konsequenzen tragen wird. Denn derzeit wird nicht nur die wirtschaftliche Grundlage dafür gelegt, mit einem Post-Corona-Wachstum die Umweltkrise und die sozialen Missstände weiter voranzutreiben, sondern auch die legitimatorische Basis für einen weiteren ökonomischen Umbau der Gesellschaft zugunsten des Kapitals. Ob es allerdings ganz so düster kommen mag, wie der Autor nahelegt, bleibt nicht abzuwarten, sondern abzuwenden. Ansetzen könnte man an seinem Zweifel, ob die offengelegten „Schwächen des Systems“ und die „Möglichkeiten von mehr Solidarität und Gerechtigkeit“ tatsächlich so einfach unterbunden werden können. Dass die Hoffnung aber nicht darin liegen kann, zur alten Normalität zurückzukehren, liegt auf der Hand. Die Analyse von Seeßlen trägt dazu bei, eine emanzipatorische Kritik an den Auswirkungen der Coronakrise zu schärfen, die sich nicht auf eine verkürzte Staatskritik beschränkt.