Der zweisprachig (englisch-albanisch) herausgegebene Band bietet eine äußerst bemerkenswerte und reiche Sammlung an Fotografien aus einer Zeit, an die sich kaum jemand gern erinnern mag und die ansonsten nur minimal dokumentiert ist, da privates Fotografieren im kommunistischen Albanien verboten war.

Der Band ist eng verbunden mit dem wissenschaftlichen Werdegang des Herausgebers Robert Pichler, welcher 1989 als studentischer Exkursionsteilnehmer erstmals nach Albanien gereist ist und in den Folgejahren mit historischanthropologischen Forschungsprojekten immer wieder zurückgekehrt ist. Spätestens seit seiner Monographie über den Kosovo-Konflikt, die er zusammen mit Wolfgang Petritsch 2004 verfasste, gilt er als einer der besten Albanien- und Kosovoexperten. Seine sehr persönlichen Erinnerungen an diese Reisen bilden das Grundgerüst des Bildbandes, der sich im Zeichen von third mission, public understanding und citizen science an ein breites Publikum wendet und diese neue Textsortenkompetenz meisterlich anwendet. Die Foto-Sammlung „Flashback – Albania in the 90s“ war 2017 bis 2019 an mehreren Orten in Albanien zu sehen und ist auch als Plakataktion auf albanischen Linienbussen gezeigt worden – diese Disseminationstechnik unterstreicht den innovativ-experimentellen Ansatz.

Einer Nation wie den Albanern (die trotz dreißig Jahren sehr mühsamer Transition bis heute bedingungslos westorientiert sind) heute den Zerrspiegel ihrer rettungslosen Armut aus der Umbruchzeit nach Enver Hoxha vorzuhalten, bedarf in jedem Fall einer Rechtfertigung. Und hierin liegt meines Erachtens die Stärke des Buches: Den nachhaltigsten Eindruck hinterlassen nicht die Hunderte von gut sortierten Fotos, die einen versierten Fotografen zeigen, der schnell mit seinen meistens sehr neugierigen Motiven unmittelbar in Interaktion tritt, sondern die Sammlung von insgesamt 33 Essays, die – teils literarisch, teils autobiographisch – die Zeit seit dem Systemwechsel einzufangen versuchen. Sie gliedern sich in die Kapitel „The Flashback Project“ (S. 18 – 75), „I’ve Looked at Clouds from Both Sides now“ (S. 76 – 123), „Walking at the Pace of the Times“ (S. 124 – 183), „Northern Skies“ (S. 184 – 235), „Making Waves, the Tide is Turning“ (S. 236 – 281) und „Southern Shores and Upland Pastures“ (S. 282 – 331).

Hier geht es insbesondere um die Fragen von Wahrnehmung, Erinnerung, Fremdzuschreibung und Stereotypen: Bringen Bilder von Armut die Wahrheit ans Licht, oder reproduzieren sie nur Klischees, die wir im Westen uns seit langem zurechtgelegt haben? Wieviel Authentizität steckt in einer Aufnahme, auf der ein lachendes Gesicht vor einem Gebäude posiert? Insbesondere der Blick auf archaische Traditionen (wie die im Gewohnheitsrecht des Kanun festgeschriebene Blutrache im gebirgigen Norden Albaniens) wirft die Frage auf, ob sich die internationale Balkanforschung seit 200 Jahren nicht viel zu einseitig auf Folklore und Dialekte konzentriert hat und hierbei urbane, elitäre und modernistische Entwicklungen in den südosteuropäischen Gesellschaften übersehen hat. So denkt zumindest die jüngere, städtische Generation in Tirana, wie Pichler berichten kann. Angesichts der ins Stocken geratenen EU-Integration des Westbalkans sind diese wissenschaftsethischen Fragen um Zuschreibungen und Alterisierungen („othering“) mehr als angezeigt und werden hier vorbildlich gelöst.

Der in einem alternativen Wiener Verlag produzierte und zu einem Spottpreis erhältliche opulente Fotoband enthält neben Hunderten von Fotos acht Schlüsseltexte von Pichler sowie 25 Kurzbeiträge aus der Kultur-, Literatur- und Wissenschaftsszene Albaniens und Kosovos sowie von international renommierten Albanienexperten und -expertinnen wie Karl Kaser, Nathalie Clayer oder Stephanie Schwandner-Sievers. Interessant ist ein direkter Vergleich mit dem berühmten Band „Albanisches Überleben“ der deutschen Fotografin Jutta Benzenberg und des albanischen Literaten Ardian Klosi von 1993. Ohne diesem Meilenstein visueller Transitionsdokumentation nachzustehen, was Ausdruckskraft und Ästhetik der Aufnahmen betrifft, zeigt bereits eine Daumenkinolektüre beider Bildbände in beeindruckender Form das Tempo und die Wucht des Übergangs im post-totalitären Albanien. Die Erstarrung im sprichwörtlichen „Nordkorea Europas“ (wie Albanien von Benzenberg und Klosi in den gemeinsamen Büchern bezeichnet wird) haben die Protagonisten aus Pichlers Kamera bereits hinter sich gelassen, auch wenn es weiterhin vor allem ums Überleben geht.